Was iss in dieser Welt noch ächt?

Der literarische Blick in den Himmel beginnt zwar bereits in der Antike, doch erst seit knapp 150 Jahren hat sich aus den zaghaft und mehrheitlich utopisch und dystopischen Blickversuchen das Genre der sogenannten Science, Space oder Speculative Fiction (SF) entwickelt, das nicht nur in der Literatur, sondern auch in Film, Hörspiel und Comic sprichwörtlich neue Welten entdeckt und mithin sogar die reale Welt erobert hat.

Selbstverständlich war das keinesfalls. Und vielleicht lag es auch nur an Lukianos von Samostas Vater, der – wer weiß – nicht wie so viele Väter vor und nach ihm, mit seinem Sohn den in die See stechenden Schiffen nachsah, sondern den Blick und die Sehnsucht des Sohnes zum Himmel lenkte. 165 n. Chr. schrieb Lukianos dann mit seiner „Wahren Geschichte“ das erste Mal überhaupt eine fiktive Reise in den Weltraum nieder und wird damit gleichzeitig zum ersten wichtigen Vertreter der „Voyages Imaginaires“, der fantastischen Reisebeschreibungen, die ab dem 17. Jahrundert in Europa immer populärer wurden. Doch eher selten ging es darin wie in Keplers 1634 erschienenem „Somnium“ in Richtung Mond und Weltall oder wie in Kindermanns „Luft-Schiff nach der Oberen Welt, welche jüngsthin fünf Personen angestellet“ 1744 zum ersten Mal auf den Mars.  Häufiger war es das Fremde auf Erden, dass Helden wie Defoes Robinson Crusoe auf einer unbekannten Insel stranden oder Holbergs Niels Klim zu seiner unterirdischen Reise aufbrechen ließen. Wurden dann aber, wie in einem der erfolgreichsten Romane des 18. Jarhhundert, Johann Gottfried Schnabels „Insel Felsenburg“, bestehende Verhältnisse kritisiert, eine Robinsonade draufgesetzt und eine Utopie mit eingewoben, hatte man eigentlich schon fast das zusammen, was der Science Fiction-Autor Frederik Pohl als spekulative Literatur des 20. Jahrhunderts definierte, die „der Wirklichkeit entsprechende Erweiterung einer Lüge“.

Aber nur fast. Denn noch sinnierte der Bischof von Hereford darüber nach, wie die Vögel zum Überwintern auf den Mond fliegen und noch gab es Expeditionen wie jene von Captain Cook, der mit der Endeavour den südlichen Pazifik durchmaß, auf der Suche nach dem legendären Südland, der „terra australis“. Doch nur ein halbes Jahrhundert später war auch das Makulatur; die Beagle unter Kapitän Fitz Roy und mit Charles Darwin an Bord brach 1831 nicht mehr mit dem Forschungsauftrag auf, neue Welten zu entdecken, sondern den Verlauf der Küsten exakt zu vermessen – reine Bestandsaufnahme. Zwar gab es noch einige weiße Flecken im Inneren Afrikas, doch auch die verschwanden sehr schnell – und mit ihnen das Fremde, nach dem es sich Jahrhunderte so schön hatte sehnen lassen. Und da beim Menschen auf die Sehnsucht nach dem Fremden nicht selten die Zerstörung  eben dieses Fremden folgt, wurde das Fremde über ein rational ausgeklügeltes koloniales Wertesystem nun wirtschaftlich ausgebeutet, ideologisch entwertet und als Zerrspiegel für all das benutzt, was man auf keinen Fall sein wollte. Dabei halfen nicht nur die Überwindung von überlebten theologischen Dogmen, sondern auch der Siegeszug der Naturwissenschaften und der Technik, die den Glauben an eine beliebige Veränderbarkeit der Welt und an die Machbarkeit der Zukunft durch den Menschen geweckt hatten. Aber das Sehnen blieb, nur wohin damit?

Etwas neues musste her, nicht nur für die Sehnsucht. Und so verwundert es denn kaum, dass ab Mitte des 19. Jahrhunderts die literarische Aufmerksamkeit  gegenüber Himmel, Raum und Gestirnen sich auffällig zu mehren begann.  Bei Jules Verne rückten die wissenschaftlich-technischen Vorgänge erstmalig in den Mittelpunkt des Plots; statt Abenteurern und Kapitänen zur See, im Dienst von Krone, Kirche oder Vaterland waren es nun Forscher und Privatiers im Dienste der Wissenschaft, die auszogen, um das Unmögliche möglich zu machen. In einer Zeit des industriellen Aufbruchs nutzte Verne ab 1863 in seinen Romanen die Verwirrung des Menschen  über eine sich in galoppierendem Umbruch befindliche Welt und den daraus resultierenden Glauben an die prinzipielle Wunderkraft der Technik, um feuerwerksartig Roman auf Roman zu publizieren. Verne las sich akribisch in die Chronik der neuen Erfindungen ein, lotete ihre Einsatzmöglichkeiten aus und verband die sich abzeichnenden Trends mit einer oft verblüffenden, spätere Entwicklungen vorwegnehmenden, Fantasie. 1864 bohrte er sich zum Mittelpunkt der Erde vor, ein Jahr später ging es bereits zum Mond. Mit einschlagendem Erfolg. Vernes Werke wurden in 143 Sprachen übersetzt und zumindest zu seinen Lebzeiten dürfte Verne der meistgelesene Autor der Welt gewesen sein. Dieser Erfolg schlug sich in weltweit ähnlichen Publikationen nieder, so dass schließlich auch Deutschland mit Kurd Laßwitz 1897 erschienenen „Auf zwei Planeten“ seinen ersten typischen SF-Roman vorweisen konnte. Aber Vernes Einfluss ging weit darüber hinaus, in Abgrenzung oder Zuwendung sollte er bis in die jüngste Gegenwart spürbar bleiben.

So begann noch zu Vernes Lebzeiten ein Autor zu schreiben, der sich zunächst stark von Verne beeinflusst zeigte, dann aber ebenso deutlich von Vernes Zielsetzungen abwich. H.G. Wells teilte Vernes starkes Interesse an der Technik nicht, ihm war der Mensch wichtiger als die Maschine. Stand bei Vernes Mondromanen der Flug zum Mond, das „Wie“ des „Hins“ im Mittelpunkt, so wird dieser Aspekt bei Wells 1901 erschienenen „ersten Menschen auf dem Mond“  fast beiläufig abgewickelt. Wells konzentriert sich auf die Mondbewohner und ihren gesellschaftlichen Neuentwurf; unter einem ähnlichen Szenario wie Schnabel mit seiner Insel Felsenburg liefert er das fehlende Element, nämlich die ganze neue Welt des Mondes und ihr Flug dahin, der Schnabels Buch noch keinen „ganzen“ SF-Roman hatte sein lassen. Doch mehr als das Hin zu etwas Neuem ist Wells das Weg von etwas Altem wichtig, ohne ersteres jedoch ganz zu vernachlässigen. Ironischerweise sollte aber gerade Wells „schwache“ Seite seinen literarischer Ruhm begründen; mit seiner Zeitmaschine waren ab 1895 plötzlich Zeitreisen möglich und drei Jahre später sah sich die Menschheit erstmals dem Angriff einer anderen Welt ausgesetzt. Doch wurde der  „Krieg der Welten“ in seinem Erscheinungsjahr noch als beißende Kritik an den kolonialen Eroberungskriegen interpretiert, verlor sich diese Sichtweise spätestens im Jahr 1938, als der damals noch unbekannte Orson Welles sich des Stoffes annahm und eine Hörspielfassung anfertigte. Der als fiktive Reportage ausgestrahlte „Krieg der Welten“ führte zu heftigen Irritationen bei den Zuhörern, die die Übertragung für eine authentische Reportage hielten und einen tatsächlichen Angriff Außerirdischer befürchteten und einmal mehr Ernst Blochs Erkenntnis bestätigten, nach der die Möglichkeit nicht selten stärker als die Wirklichkeit ist.

Doch es war nicht nur die Qualität des Hörspiels, das den „Krieg der Welten“ im Jahr 1938 zu solch einem Erfolg werden ließ, es war auch die Zeit dafür gekommen. Die schon von Verne aufgegriffenen technischen Innovationen verschränkten sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit Wirtschaftkrisen und machtpolitischen Umbrüchen und nährte die alten Sehnsüchte und Ängste der Menschen in nie geahntem Facettenreichtum des Weg- Hinwollens. Ganz aufgefangen werden konnte diese inzwischen alle Gesellschaftsschichten durchsetzte Verunsicherung allerdings erst durch die völlig veränderten Produktionsbedingungen im Druckgewerbe. Über billigst produzierte Heftchenromane –  auf einer im Englischen als Pulp bezeichneten Billigpapiermasse gedruckt – konnte schon bald die neue Massensehnsucht befriedigt werden –  etwa in der  erstmals 1908  herausgegebenen und schließlich 180 Heftausgaben umfassenden deutschen Weltraumserie „Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff“.

Sehr oft waren die Grenzen zwischen Anspruch und Pulp, also Populärkultur, fließend. Während der oft als „goldene Jahre der Science Fiction“ bezeichneten 1930er und 1940er Jahre begannen seriöse Autoren wie A. E. van Vogt, Isaac Asimov, Alfred Bester oder Robert A. Heinlein ihre Karrieren im Heftformat.  Aber nicht nur der Pulp-Fiction erlebte goldene Zeiten, einfach alles wurde zu Gold, was versucht wurde. Als 1929 Fritz Lang seine „Frau im Mond“ abdrehte, wurde nicht nur der Mond nun auch im Film zum ersten Mal Thema, sondern ein ganz neues Genre, der SF-Film begründet, der ebenso wie die Literatur von trivialen Tiefen bis zu komplexen Konstrukten alles mitnahm, was sich auf dem kurzen Weg in die Gegenwart anbot. Auch im Comic wurde in diesen Jahren eine lange Tradition begründet. Buck Rogers und Flash Gordon erwachten zum gezeichneten Leben, um nach dem zweiten Weltkrieg Krieg von den Superhelden des Marvelimperiums  abgelöst zu werden, die wiederum die europäischen Zeichner inspirierten. So flogen Tim und Struppi 1953 auf den Mond und deuteten bereits den Kampf der polititischen Systeme um den ersten Mann im All an. Dass dann ab den 1990ern die alten Helden des Marvel-Comics wiederum den Film zu kaum mehr von der Wirklichkeit zu unterscheidenden Trickteffekten inspirierte, ist nur eine der vielen Paradoxien, die das Genre Science Fiction und der Blick in das Unerwartete mit sich bringt und unweigerlich an Heraklit denken läßt: „Wer nicht Unerwartetes erwartet, wird das Unerwartete nicht finden.“

Die Sehnsucht nach dem Unerwarteten – dem Fremden so frappierend ähnlich – unterfüttert die meisten SF-Geschichten bis in die 1980er Jahre. Von Wells und Verne inspiriert, erzählten sie von Zeitreisen und Sternreisen,  von Begegnungen mit Robotern und ihren neu ausgerufenen Gesetzen, von Begegnungen mit Ausserirdischen, von Parallelwelten, in denen das Dritte Reich den Sieg davongetragen hat oder vom alles Leben vernichtenden Einschlag eines Kometen. Diese Geschichten sind immer wieder auch alte Bekannte in neuen Kleidern. Die Weltraumopern- und Kriege sind oft nichts anderes als das Nachspielen des gerade vergangenen oder laufenden Krieges, die neuen Gesellschaftsordnungen hierarchisch organisierter galaktischer Imperien nicht selten Vexierbilder faschistoider Allmachtsfantasien.  Bei fast allen dient der Weltraum, so wie damals Afrika oder Asien als schillernde Projektionsfläche. Und genauso oft wie Gegenwelten und neue Utopien geschaffen werden, wird in die alten Fallen gestolpert, wird das Fremde besiegt und gleichgemacht. Nur für wenige, wie etwa Stanislaw Lem, ist der Mensch und sein Leben einzigartig einsam, ist das Weltall tot und eine Enttäuschung. Oder wie in seinem großen Roman „Solaris“ eine Überforderung für den Menschen, der schlichtweg zu dumm ist, das Fremde zu begreifen. Auch Orson Scott Card machte 1985  nicht viel mehr Hoffnung. Doch in seiner bahnbrechenden Ender-Trilogie  gesteht  er zumindest Kindern zu, mit Außerirdischen kommunizieren zu können, wenn auch mit ungeahnt düsteren Folgen.

Zwar wird der literarische Weltraum mit den 1980ern nicht ganz verlassen, aber mit der starren Routine und Begrenztheit des amerikanischen Shuttle-Programms setzt auch Ernüchterung in der Literatur ein. Sie weicht schließlich der Erkenntnis, dass für den Sprung in eine wirklich neue Dimension zuerst einmal der Mensch erneuert werden muss.  Nicola Griffith überwindet so in „Slow River“ das monosexuelle Verhalten der Menschen und erweitert damit im Vernschen Sinn einen aktuellen Trend, der immer mehr junge Menschen nicht zwangsläufig das andere Geschlecht, sondern den Menschen, ganz gleich, welchen Geschlechts, lieben sieht. Eine Grundvoraussetzung gewissermaßen für unsere digitalisierte, virtuelle Zukunft, die William Gibson in „Neuromancer“ ebenso  treffend halluzinierte wie bereits vor ihm Philip K. Dick in seinem Roman  „Träumen Androiden von elektrischen Schafen? „, der dann in der Verfilmung als „Blade Runner“ nicht nur visuell zu – fast – wirklichem Leben erwachte.

Seitdem auch diese Gedankenspiele von der Wirklichkeit nahezu eingeholt worden sind, wird auch der Blick zu den Sternen wieder vermehrt gewagt. Autoren wie Charles Stross beginnen uns darauf vorzubereiten, was nach dem Abschluss des Projektes „Digitalisierung des Menschen“ zu erwarten ist, den Zeiten nach der Singularität. Es sind klassische Abenteurreisen ins grenzenlose All, bevölkert von künstlichen Intelligenzen in einer sich zunehmend  verfilzenden Grenzwelt zwischen Realität und Virtualität, Wahrheit und Lüge, an die schon Arno Schmidts gedacht haben mochte, als er in „Julia, oder die Gemälde“ bereits 1983 festhielt: „was iss in dieser Welt noch ächt? (Wahrscheinlich wird der Mond auch nur auf eine der niedrigeren Wolken projiziert).“

AXEL TIMO PURR (In: forum, frühjahr 09)